atelier:performance #27 - Sigtryggur Berg Sigmarsson witnessed by Johannes Lothar Schröder
Pandemiedruck Text by Johannes Lothar Schröder
Am 30. Mai 2020 fotografierte ich die ATELIER:PERFORMANCE #27 von Sigtryggur Berg Sigmarsson aus der Serie, die Ilka Theurich in Hannover veranstaltet und unter Pandemiebedingungen fortsetzt. Ein Jahr später veröffentlichte KUNSTFORUM international die Fotos als Titel von Band 274 und in einem Artikel über die wirtschaftliche und soziale Situation Bildender Künstler*innen von Dagmar Schmidt.
Ein Zeuge sein und fotografieren
Das Fotografieren im Studio als Zeuge der drei Aktionen: Ghostriders, Das ist keine Musik und Important Little Man von Sigtryggur war aus mehreren Gründen eine besondere Erfahrung.
Es war ein befreiendes Erlebnis, weil ich weder die Sicht anderer Zuschauer behinderte noch ihre Aufmerksamkeit von der Performance ablenkte.
Dadurch veränderte sich mein Status als Zeuge in den eines Co-Performers. Meine Position zwischen Publikum und Performer war keine lästige Begleiterscheinung mehr, sondern ihr kam mit der Publikation der Fotos eine vermittelnde Funktion zu, weil sie zur einzigen visuellen Verbindung zwischen der Performance und den potenziellen Besuchern der Veranstaltung wurde.
Was mir fehlte, war allerdings die tranceartige Versenkung in das Geschehen. Diese tritt ein, wenn ich ohne Ambitionen anwesend bin oder eine Performance einfach so, ohne den Druck eines Auftrags fotografiere. Wie immer konzentrierte ich mich auf Raum und Zeit, suchte eine gute Position, von der ich annahm, dass von dort eine Szene, eine Geste oder eine Bewegung gut zur Geltung kommen würde. Weiterhin müssen Abstand, Bildausschnitt und Brennweite im passenden Verhältnis zueinanderstehen, so dass dann der Verschluss im richtigen Augenblick ausgelöst werden kann.
Als die technischen Voraussetzungen stimmten, konnte ich mich allerdings von manchen Kontrollmechanismen abkoppeln und in das Geschehen fallen lassen, um intuitiv zu reagieren.
Verinnerlichung und Objektivierung
Die doppelte Rolle bewirkte, dass die verinnerlichten Eindrücke neben der Performance auch die Umstände des Fotografierens umfassen. Um also später das Erlebte zu erfassen und um eine dazu notwendige analytische Ebene zu erreichen, wird ein Sortieren notwendig. Die soeben wiedergegebene Sicht des Fotografierenden verweist schon auf den Raum, den diese Arbeit eingenommen hat, bis sie endlich spontan und weitgehend automatisiert vonstattengehen konnte. Erst danach lässt die Betrachtung der Ergebnisse auch Erinnerungen an Momente zu, die außerhalb der fotografierten visuellen Ebene liegen.
Unterschiede zeigt schon ein Vergleich zwischen diesem Text und dem vor einem Jahr auf dem Blog des Autors veröffentlichten Bericht über die Aktion. http://blog.owlperformanceart.eu/?m=202007
Performer als Sänger und Dirigent
Singen aufzunehmen, bringt die Fotografie an ihre Grenzen, doch lässt die Mimik einen Sänger unzweifelhaft als solchen erkennen. Der laute und eindringliche Gesang von Sigtryggur Berg, bot in der Anfangsphase der Performance eine gute Tranceinduktion, die es erleichterte, ausdrucksvolle Mimik und Gestik zu erhaschen. Danach betrat „der Dirigent“ den Raum. Das hatte schauspielerische Qualitäten, doch ist es nicht zutreffend, diese Ebene zu stark zu betonen. Sigmarsson ist zwar auch Musiker, doch seine Performance hatte durchaus auch parodistische Anteile, die Konflikte zwischen den Künsten erkennen lassen. Vielleicht hatte eine Ablösung stattgefunden? Wurde eventuell ein Gebiet der Kunst zugunsten der Priorisierung eines anderen verlassen? Das Wiegen des Oberkörpers und die Bewegungen der Arme und Hände sind einem Dirigenten zuzuordnen, wäre da nicht das Klavierspiel den Händen abzulesen. Ohne Instrumente und ein lauschendes Publikum wirkten diese Gesten verlassen, introvertiert, ja bisweilen wütend.
Eine Performance ist kein Fotoshooting und auch keine Probe, denn der Nachmittag mit der Stunde des Auftritts war programmiert, so dass hier keine Übung zu absolvieren war. Die Performance war ein vollumfänglicher Auftritt für uns beide. Es würde keine Wiederholung geben können. Was nicht performt und fotografiert werden konnte, würde verloren sein.
Pause
Nach diesen ersten beiden Teilen gab es eine Pause mit Getränken, wie es sie während einer Vorstellung mit einem großen oder kleinen Publikum auch gegeben hätte. Sie bot eine Gelegenheit zur Entspannung, zu einem Gespräch nach einer ersten Sichtung der bisherigen Fotos sowie für Korrekturen der Kameraeinstellungen. Während ich noch über die richtigen Belichtungszeit und die geeignete Brennweite nachdachte, legte Sigmarsson einen Stapel seiner Zeichnungen auf braunem Packpapier bereit. Die durch das Glasdach scheinende nachmittägliche Sonnen bot die Auswahl zwischen direktem und indirektem Licht.
Sigmarsson als Zeichner
Im abschließenden dritten Teil begegnete mir der Performer als Zeichner. Er kniete und ich beschloss, mit einem Teleobjektiv mehr Abstand zur Szene herzustellen, womit auch die Abbildung der Blätter eine ihnen zuträgliche Flächigkeit erreichen würden. Trotzdem konnte ich mich kaum den Gesten und Worten, mit denen die Zeichnungen eindringlich angeboten wurden, entziehen. Hockend oder mich wälzend einen Platz zum Gegenüber suchend, dauerte es eine Weile, bis sich das Sprechen über die Skizzen bei mir in ein nachvollziehendes Verstehen verwandelte. Manche schienen der Kommentar absurd und surreal, so als ob er auf die zeitgenössischen Erwartungen zugeschnitten wären, die ein Narrativ erwarten.
Die Eindringlichkeit seiner Anpreisung war vereinnahmend und ich entwickelte einen Rhythmus, mit dem der sukzessiven Präsentation von bald einhundert Blätter gut zu folgen war. Diese Szenen gingen mir auch später nicht aus dem Kopf. Es war kurz nach dem ersten Lockdown in der Coronazeit und noch waren überall die Straßen leer. Wo sollte ein Straßenkünstler wirklich seine Kundschaft erreicht. Vor dieser Außenwelt betrachtet hatte Sigmassons Präsentation etwas flehendes und das braune Papier der Blätter erinnerte an Pappschilder von Demonstranten oder von bettelnden Obdachlosen, die in einen verschärften Wettbewerb um die wenigen Passanten hineingezogen wurden. Das war ein Bild der Lage vieler Künstler, die in eine Situation hineingezwungen worden waren, in der sie als Bittsteller auftreten mussten.
Prekäre Existenzen als Vorbild für andere Branchen
Die Zuspitzung der sozialen Lage der Künstler unter den Bedingungen der Pandemie ist ein Grund, warum ich mich freue, dass die Fotos von Sigtryggur in einem passenden Text untergebracht sind. Der Artikel von Dagmar Schmidt führt den Leser*innen des Kunstforums die wirtschaftliche Lage von Künstler*innen vor Augen. Deren prekäres Leben hat sich nach über einem Jahr Covid 19 noch einmal zugespitzt, gibt aber schon seit Jahrzehnten ein Rollenmodell für „Freie“ vor, die kaum tariflich gebunden sind. Es ist inzwischen in vielen Branchen vorbildlich geworden, um Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, mit denen sich vor allem Unternehmen von ihren sozialen Verpflichtungen befreien. Im Falle von Krankheit und Jobverlust bekommen Selbständige eben weder Lohnausgleich noch Arbeitslosengeld. Mal gibt es Geld, dann wieder lange Zeit nichts. So wächst die Zahl der Tagelöhner*innen, die auf gut Glück von einem zum anderen Tag leben müssen.